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    Die Strasse, ein Raum. W/ Lucas Hirsch

    Ein Text von Lucas Hirsch und Thea Mantwill


    Neulich habe ich über Eleganz nachgedacht und in meinem Kopf stand unverrückbar wie eine Institution folgender Satz: Eleganz ist die Fähigkeit, etwas Schweres leicht aussehen zu lassen. Paul Valéry hat das auch gesagt, aber schöner:


    Elegantia

    Das bedeutet Freiheit und Ökonomie ins Sichtbare übertragen

    Ungezwungenheit, Leichtigkeit in

    schwierigen Angelegenheiten.

    Finden, ohne den Anschein zu erwecken, gesucht zu haben

    Wissen, ohne offenzulegen, daß man gelernt hat


    Eleganz kann also gleichzeitig bedeuten, eine Galerie ohne Boden zu führen, wenn der Raum nun einmal keinen hat, aber auch, einen Raum mühevollster Veränderung zu unterziehen, die ihn letzten Endes erscheinen lässt, als er seit dem letzten Auszug keine Hand und kein Werkzeug mehr gesehen. Beides — die sichtbare Mühe (Danach), über dem Bodenlosen zu agieren, und die unsichtbare Mühe (Davor), Spuren zu erzeugen, die als solche nicht erkennbar sind — sind zwei Seiten einer Medaille.



    DÜSSELDORF

    Eine Party. In der Akademie. Hätte schief gehen können, aber da steht ein Typ mit Fastglatze und blauer Daunenjacke im Käfig und legt krassen Techno auf, der Vibe ist irgendwie aggro, aber gut.

    Eine Party. Bei AGI’S BISTRO. Der Typ zeigt ein Schlumpfbild und die Decke wird runter gefistbumped.

    Auf einem Philara Opening im Rheinhafen stellt ein gemeinsamer Freund ihn mir vor: Er heißt Lukas und hat ein Basketballfeld gemalt. Am nächsten Tag auf dem nächsten Opening lernen wir uns wieder kennen, als er den Freund fragt, wer denn der kleine Typ sei, den er gestern dabei gehabt habe. Auch wenn das klingt als sei ich in seiner Hosentasche mitgekommen, werden wir Freunde.

    Für die Ausstellung zum Peter-Mertens-Stipendium hat er gefundene Objekte gescannt und auf Planen für die Außenwerbung gedruckt, solche für Baugerüste, zwischen denen ich stehe und Panik bekomme, weil meine noch nicht existente Galerie ihn in my mind im Programm hat und es immer wahrscheinlich wird, dass eine existierende Galerie schneller ist als ich. Rock’n’Roll oder sicherer Job? Obwohl mein Workbuddy mir die Show stiehlt und zwei Wochen vor mir kündigt, bleibe ich dabei und gehe, um eine Galerie in former Sandy’s Copyshop zu eröffnen.

    Pläne sind immer gut, bis sie die Realität treffen. Mein Plan: SANDY’S COPYSHOP SANDY’S COPYSHOP sein lassen und ausschließlich Appropriation Art zeigen. Die Realität / Sandys Plan: Umziehen und denselben Copyshop woanders in Düsseldorf öffnen. Also keine Appropriation und der Raum wird auch eher entkernt … wie viel ich hab machen lassen, wird nicht verraten. Lukas ist aber konsequent und zeigt ein halbes Jahr später gestohlene Gegenstände aus Brüssel, Gullideckel, Gegenstände von Baustellen, sowas. Und ein Jahr später die Strafanzeigenjacke, seine Daunenjacke, auf deren Rücken sein Justizportfolio gestickt ist.



    WARSCHAU

    Meine erste Kunstmesse. Ich wurde den beiden Veranstaltern, Stereo und Piktogram, vorgeschlagen. Die Standgebühr betrug gerade mal 1.800 Euro, aber ich habe meine Galerie vor kurzem erst eröffnet und noch kein einziges Kunstwerk verkauft. Es ist also kein Geld für Transport oder Produktion übrig. Lukas Müller und ich fahren also von Berlin mit dem Zug nach Warschau, ohne eine einzige Arbeit im Gepäck. Wir wollen vor Ort etwas finden. Im Boardbistro essen wir Pierogi und trinken zu viel Zywiec. Abends kommen wir ziemlich betrunken in Warschau an. Wir gehen erstmal in eine Bar, die „The Kraken“ heißt, und bestellen Vodka. Lukas erklärt mir, was es bedeutet, einen Schaumigen zu haben. Am nächsten Morgen wachen wir spät auf und haben bis zur Eröffnung der Messe weniger als 24 Stunden Zeit. Alles, was Lukas bis dahin gesammelt hat, sind Unmengen an Zetteln, die überall in der Stadt auf der Straße rumlagen. Wir lachen den ganzen Morgen, weil wir keine Ahnung haben, was wir damit machen sollen. Lukas kam mit einem Rucksack voll dreckiger Wäsche nach Polen und muss im Airbnb erst mal waschen. Als er seine nassen Sachen aufhängt, habe ich die Idee, zu Ikea zu fahren und drei Wäscheständer zu kaufen. Wir wollen dann die Zettel daran aufhängen. Die Ständer haben 30 Euro gekostet. Wir fahren mit ihnen im Taxi zum Palast der Kulturen, wo die „Not Fair“ stattfindet. Am Eingang werden wir von Stereo und Piktogram empfangen.

    „Hi I‘m Michal“,

     „Hi I‘m Michal“,

    sagten die beiden.

    „Hi I‘m Lucas“,

    „Hi I‘m Lukas“,

    antworten wir.

    Michal von Stereo fragt: „One question: who‘s galerist and who‘s artist?“. Wissen wir selber nicht so genau.

    Wir hängen die Flyer mit Wäscheklammern an die Ikea Wäscheständer und verkaufen eine der Skulpturen an das MoMa Warschau. Der Handyklingelton von Piktogam -Michal ist „Everyday I'm hustlin' hustlin'. Hustle, hustlin' hustlin'. Hustle, hustlin' hustlin'…“.

    Seine Galerie hat eine Dachterrasse, auf der wir polnischen Rap auf Youtube hören und Bier trinken. Ich breche mir eine Rippe, als ich einen Bauchplatscher auf die viel zu harte Matratze von einem Hotelzimmer mache.

    Dann hat einer irgendwie Geburtstag und wir gehen in ein Restaurant, das „Dom Wodki“ heißt. Auf der Toilette ist eine Animation von James Bond im Spiegel, der einen auf polnisch anquatscht, während man sich die Hände wäscht. Zu jedem Gang gibt es davor und danach einen auf das Essen abgestimmten Vodkashot, und zwischen den Gängen unfassbar viele unabgestimmte Vodkashots. Die Preise sind für polnische Verhältnisse astronomisch, wir fürchten uns das ganze Essen vor der Rechnung. Bis schließlich ein Liechtensteiner mit einem „Fickt euch doch alle“ seine Kreditkarte auf den Tisch wirft und zahlt.

    Am nächsten Morgen sind wir schlimm verkatert mit Wojciech Bąkowski auf dem Jüdischen Friedhof und ich weine. Später am Tag wird ein italienischer Kollege von einem Security als Terrorist bezeichnet und aus dem Palast der Kulturen geworfen. Er saß mit Rucksack und Laptop in der Lobby, was dem Security sehr verdächtig vorkam. Währenddessen wird draußen auf der Straße gegen neue Abtreibungsgesetze demonstriert. Am Ende der Messe werfen wir die Wäscheständer in große Müllcontainer und teilen die Flyer in drei Plastiktüten. Meine Rippe tut beim Lachen noch über einen Monat weh.



    KÖLN

    Art Cologne 2017: meine erste größere Messe. Ich zeige eine Solopräsentation von dem kürzlich gegründetem Kollektiv HC. Lukas und Friedemann leben zu dieser Zeit zusammen in Brüssel. Immer wenn ich die beiden besuche, gehen wir auf einen Delikatessen-Markt, essen Unmengen an Austern und trinken literweise Cremant. Einmal hat Friedemann als Katerfrühstück eine ganze Packung Eier pochiert. Er hat das rohe Ei mit etwas Öl in Frischhaltefolie gesteckt und kurz gekocht. Für mich gibt es kaum etwas Schlimmeres als Eier, wenn sich Eiweiß und Eigelb nicht miteinander vermischt haben. Ich habe trotzdem ein Ei auf Toast gegessen und gegen den Würgereiz angekämpft, um meine Gastgeber nicht zu kränken.

    Jedenfalls zeigen wir auf der Art Cologne zehn Leinwände, alles Versionen von Bildern aus Francis Picabias Transparence Serie. Aquarelle auf Leinwand, alle im gleichen Format und mit großem weißen Rand. Ein Galerist aus Hamburg erkennt einen Torero wieder und meint, er hätte das Original vor Jahren mal im Sekundärmarkt verkauft. Ein paar Monate nach der Messe habe ich einen dicken Brief im Briefkasten. Er ist von VG Bild und droht uns mit einer Klage. Um ein Verfahren vor Gericht zu vermeiden, soll ich die Identität von HC preisgeben und alle Käufer:innen der Bilder nennen. Wir sollen eine Strafe von 2.000,-EUR pro Bild zahlen, alle Arbeiten zerstören und die Zerstörung dokumentieren. Angeblich haben sich die Erben von Picabia beschwert.

    Unsere erste Idee: die Aquarelle mit viel Wasser zu verwischen und unkenntlich zu machen. Dann besinnen wir uns und schalten einen Anwalt aus Berlin ein. Im Jahr zuvor hat er Ida Ekblad vertreten, die zusammen mit dem Kunstverein Hamburg von der Firma Birkenstock verklagt wurde, weil sie für eine Ausstellung dort ein Werbeplakat der Firma als Tapete auf die Wand geklebt hatte. Der Fall ging vor Gericht und Ida Eklad wurde am Ende recht gegeben. Appropriation nennt man das, nichts Neues eigentlich. Wir fragen die VG Bild freundlich, ob sie davon schon gehört haben? Der Brief von unserem Anwalt an VG Bild kommt sehr gut an. Alles wird umgehend fallen gelassen.

    Ein paar Jahre später werden wir jemanden von VG Bild auf einer Eröffnung wieder treffen, wo die Bilder noch einmal gesammelt zu sehen sind. Sie wird sich sehr nett entschuldigen und es wird so scheinen, als sei ihr das alles etwas unangenehm.



    Natürlich ist die Erwartung an die VG Bild, schon etwas von einer in den 70ern entstandenen Kunstform gehört zu haben, etwas grundsätzlich Anderes als die Erwartung an den Rest der Welt außerhalb der Kunstbubble — die immer noch kleiner ist als die Kryptobubble, egal wieviel sie pumpen oder koksen geht. An dieser Stelle wäre also ein Exkurs zu Appropriation Art möglich*. Aber. Erstens gibt es Google, und zweitens bekomme ich so ein Effi-Briestiges-Gefühl dabei. Ich fürchte mich davor, zwanghaft meine Brille die Nase hochzuschieben und damit einzuleiten, dass das ein weites Feld sei. Und ich werde wieder müde.

    Was mich wach macht: Diebstahl. Wegnahme, Aneignung, Entwendung, Eigentumsdelikt, Plagiat, Wegnahme, Mauserei (my favourite so far), Unterschlagung, Dieberei, Einverleibung.

    Sich etwas nehmen. Kann man Raum klauen? Kann ich etwas stehlen, das mir geschenkt wurde? Ist es ein Diebstahl, wenn die:der Bestohlene erleichtert ist, das es ihm genommen wurde? Ein Plagiat ist der Diebstahl von Gedanken. Es gibt viele Gedanken, die ich mir gern stehlen lassen würde, wenn sie danach auch wirklich weg wären. Monelle sagt: Wirf nicht Schutt hinter dich; denn jeder soll sich seines eigenen Schuttes bedienen. Klingt so, als sei es kein Diebstahl mehr, etwas zu klauen, das jemand nicht mehr möchte oder nicht mehr braucht. Anscheinend bedeutet Besitz auch, entschieden zu haben, dass etwas (zu) mir „gehört“. Und trotzdem soll sich jede:r seines:ihres eigenen Schuttes bedienen, um sein:ihr Haus zu bauen. Natürlich ist das eine Metapher, trotzdem ist der an die usefulness geknüpfte Wert hier interessant: wie soll ich aus Schutt, der nicht meiner ist, ein Haus bauen, das meines ist. Als würde das Material zwischen meinen Händen zerbröseln, weil seine Unzugänglichkeit es in allen anderen Händen als denen der es ursprünglich besitzenden und verwendenden Person.

    Kurze Zeit (in Zeilen gemessen) später sagt Monelle, dass die jungen Schlangen ihre alten Häute verbrennen sollen, damit sich niemand ihrer bedienen kann. Auch hier der Gedanke eines möglichen Identitäts- oder Wertdiebstahls durch den Besitz von Vergangenheit, Wissen, Erfahrungen eines anderen. Dieses Bild wesentlich unheimlicher und näher als das des Schuttes, jemand könnte meine alte Haut tragen. Erpressbarkeit durch Wissen. Auch wenn es Gedanken und Erlebnisse gibt, die ich mir nur zu gern unwiderruflich stehlen lassen würde, entleiben, möchte ich nicht, dass irgendjemand davon weiß, es nachempfinden kann.

    Dinge von der Straße zu stehlen hat zunächst einmal etwas sehr Unpersönliches: Gestohlene Baumaterialien und Zeichen werden wertlos, wenn sie ihrem System entnommen worden. So wie die Bürokratie bei Betrachtung einer ihrer straight aus dem Kaiserreich kommenden „Regeln“ ohne das absurde Gesamtkonstrukt: stürzt in sich zusammen.

    Meine Schwester hat als Kind eine Zeitlang Kuscheltiere aus dem Laden gestohlen. Sie erzählte mir später, dass sie keine Freude daran hatte, aber auch nicht aufhören konnte. Eine Psychologin sagt, dass es beim Stehlen nicht um den Besitz gehe (das würde ich verstehen, ich bin ein gieriger Mensch), sondern um den Moment des Stehlens: die Möglichkeit, erwischt zu werden, die Aufmerksamkeit. Meine Schwester saß in ihrem kaltblauen Zimmer und wollte nicht erwachsen werden. Sie erzählte mir später, dass sie immer Angst hatte, zu verschwinden, nicht gesehen zu werden, keine Person zu sein.

    Da verstehe ich sie: eine andere Person sein zu wollen, kenne ich, kennt wohl jede:r. Ich habe einmal einer Person, die ich lieber sein wollte, etwas gestohlen — sobald ich es besaß, wurde es grau und wertlos. Es war ja dann meins, und ich sogar noch mehr ich. Aber der Moment, in dem ich es nahm, war ein Versprechen.

    Der Gedanke, dass jemand sich meines Schuttes bedient, in meine Haut schlüpft, ist unheimlich — aber vor allem deswegen, weil ich sofort an die schlechten Dinge denke, die unliebsamen Überbleibsel und Narben, die jemand entdecken könnte. Das Gefühl des Entblößtseins (die Zähne verlieren, ohne Hose aus dem Haus gegangen sein, etc.) ist immer unangenehm. Sobald ich es mir aber umgekehrt vorstelle — dass ich mich jemand anderes Schuttes bediene, oder, noch besser: in seine:ihre Haut schlüpfe — wird es eine Verheißung. Wer möchte nicht, zeitweise, manchmal, oft, jemand anders sein.

    Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass zwischen sich des Schuttes bedienen und in jemandes Haut schlüpfen (auch wenn es eine alte, abgelegte Haut ist) ein wesentlicher Unterschied besteht: der Schutt wird nicht mehr benötigt. Aussortiertes, Weggeworfenes, Vergessenes, Verlorenes ist immer noch Material. Niemand hat Anspruch auf etwas, das nicht wichtig genug war, um erhalten, bewahrt oder behalten zu werden. Im Gegenteil: was unter welchen Umständen als wertlos oder wertvoll erachtet wird, kann erst differenziert betrachtet werden, wenn es mehrere Blickwinkel gibt. Der Status oder Wert eines Gegenstandes kann sich ändern, wenn er verwendet oder damit gearbeitet wird. Und was für wen unter welchen Umständen Wert hat und was nicht, ist nicht nur eine potentiell philosophische oder kunstgeschichtliche Frage, sondern auch eine politische.

    (Jetzt habe ich doch über Appropriation geschrieben (glaub ich))


    MAILAND

    Es gibt ein silent agreement auf Kunstmessen, das aber fast immer übergangen wird: Keine Arbeiten mit Sound.

    Auf der Miart steht schräg gegenüber von mir ein Stand von einer neuen Galerie aus Florenz, von der ich noch nie zuvor etwas gehört habe. Sie zeigt eine einzige, riesige Skulptur in Form eines silbernen Zinnglobus und eine kleine Arbeit auf einem Wandregal, aus der ein Sound ertönt. Bei mir, auf der anderen Seite des Ganges, kommt nur ein neun Sekunden langer Loop einer Melodie an: „Duuuu-Duu, Duuuu-Duuu, DuuuDuuu, Duuuuuuuu“. 

    Ich rechne aus, dass ich bei fünf Messetagen zu je neun Stunden den Loop bis zum Ende der Woche ca. 18.000 mal gehört haben werde. Noch bevor die Preview der Messe beginnt, kommt der Galerist aus Florenz bei mir vorbei. Er stellt sich als Gianluca vor und entschuldigt sich aufrichtig für die Lärmbelästigung. Ich zeige ihm meinen Handytaschenrechner mit dem Ergebnis von 18.000 Loops. Er lacht und entschuldigt sich noch einmal. Abends im Hotel kann ich nicht schlafen. Ich höre die Melodie immer noch, wie eingebrannt in mein Gehirn. Beyond Ohrwurm, denke ich und habe grade mal 3.600 Loops geschafft. Am Anfang des zweiten Messetages ist mir die Melodie schon fast ans Herz gewachsen. Ich summe sie sogar vor mich, hin wenn ich zu weit von der Emergent Section entfernt bin, um den Sound tatsächlich zu hören. Kurz denke ich, ich funktioniere nicht mehr und bin handlungsunfähig, sobald man mir den Sound wegnimmt. Am Abend hasse ich die Arbeit wieder. 

    Die Messe läuft schon am zweiten Tag sehr schlecht, auch für die Galerie aus Florenz. Kein Wunder bei einer übermäßig großen Skulptur und Klangkunst, denke ich mir, obwohl ich selber keine Arbeit verkauft habe.

    Gianluca lädt mich an dem Abend zu einem Dinner ein ,das er organisiert hat. Angeblich ist der 6. April internationaler Carbonara Day, also bestelle ich eine der besten Carbonara meines Lebens. Als ich nach dem Essen von der Toilette zurück komme, setze mich an den Tisch und habe plötzlich einen PTSD Ohrwurmflash von der Melodie. Kurz denke ich tatsächlich, so etwas wie einen Gehirnschaden zu haben. Die Leute am Tisch bemerken meinen Aussetzer und schauen besorgt. Als ich mich aufrege, diese Scheißmusik einfach nicht mehr aus meinem Kopf zu bekommen und in Kürze wahnsinnig zu werden, lacht der ganze Tisch. Da holt Gianluca unter der weißen Tischdecke eine Bluetoothbox hervor … 🖕🏻🖕🏻

    Nach der Messe schickt er mir die wav.-Datei per Whatsapp. Der Song ist von Michael Stipe, dem Sänger von REM. Er hat ihn für die Arbeit des New Yorker Künstlers Jonathan Berger komponiert und eingespielt. Der Track ist fast 10 Minuten lang und wunderschön.

    Im Sommer fahre ich mit meiner Frau einmal quer durch Italien nach Kalabrien. Auf dem Weg verbringen wir eine Woche in der Toskana, im Haus von Gianlucas Mutter.


    BASEL

    I’m waiting in line for the bathroom at the opening of an Italian painter in a gallery in Basel. There is one more guest in front of me and several people waiting behind us. I had too much of the warm Prosecco they were serving next to a huge ice block sculpture in the courtyard and really have to pee. While I am talking to the artist in front of me a young woman is cutting the line, bursting into the bathroom. I say „Hey“ and she stops and looks at me challenging. „It’s ok if you need to go first, but I think it would have been nice to ask“. „Do you see Angharad Williams over there?“, she replies. „She gave me permission to go to the bathroom before all you“. I immediately say: „Yes well, but Richard Sides signed a certificate to me saying that I can take a shit before you can take a piss“. She looks at me in disgust and enters the bathroom. Ten minutes later she comes out again. „Thank you for being so quick about it“, I say. She turns to me, gives me the wiping hand, introduces herself and disappears into the crowd. I see her again many times this evening and also the coming months at different events and art fairs. Sometimes I wonder if we would have become friends if we met under different circumstances, but I seriously doubt it.


    DÜSSELDORF / MOON/ PARIS / NEPAL

    Wie immer blieb etwas im Raum: der Duft aus dem Brunnen von Dorota und Eglė nach gebackenem Zucker, Moschus und noch etwas, überall ein bisschen: die bläulichen Pigmente von Elisa, Sprühkleber von Lukas’ DEAR HANNAH, auf dem Boden die Spuren von Samis Skulpturen aus ungebranntem Ton, die sich bei jedem Wischen neu verteilen, aber nie verschwinden Außerdem erste Gerüchte, dass Lukas und Lucas noch nie in einem Raum gesehen worden sind — wir lieben Gerüchte. Manch einer kann nachts nicht schlafen, weil der Mond ja auch noch draußen ist, und in meinen Notizen hierzu steht noch: Fanta. Als zweite Folge der Diebstähle, also aufgrund der Strafanzeigen-, ehemaligen Raver-Jacke, hat Lukas eine Kollektion mit LFDY rausgebracht, deren Teile er danach draußen verbrennt. Ich denke über Aneignung durch Zerstörung nach und schicke ihm einen Auszug aus dem Buch von Monelle. Monelle sagt:


    Die ist das Wort: Zerstöre, zerstöre, zerstöre. Zerstöre in dir, zerstöre um dich herum. Mach Platz für deine Seele und für die anderen Seelen. (…)

    Gleiche so den Jahreszeiten, die zerstören und bilden.

    Baue dein Haus selbst und verbrenne es selbst.

    Wirf nicht Schutt hinter dich; denn jeder soll sich seines eigenen Schuttes bedienen. Baue nicht in der vergangenen Nacht. Und laß, was du gebaut hast, gehen und treiben.


    Lukas kann (und will) da nicht antworten, weil er im Schweigekloster ist, schreibt aber heute um 4:54 Uhr aus Nepal:

    Nachts und morgens ist es sehr kalt, aber tagsüber laufe ich im T-Shirt ins Dorf, um ein paar Besorgungen zu machen (meistens Nüsse und Orangen). Dineshs Mutter lebt hier auch. Sie mag so um die 80 Jahre sein. Ein tiefes Glück geht von dieser Frau aus. Sie lächelt und singt den ganzen Tag und abends reibt sie sich ihre Beine am Lagerfeuer mit Senföl ein. Ich versuche noch herauszufinden wie sie es schafft, so glücklich zu sein. Aber ich denke es ist wie bei den meisten Menschen hier, die man fragt, sie sagen: Akzeptanz.


    Niklas Taleb zeigt Scheiße alles.

    Es ist ein neues Jahr, wie immer.


    __


    *… den ich mir jetzt doch nicht ganz sparen kann, aber ich schwöre, ich weiß nix und hab nix gelesen, ich denke nur kurz nach über: die Straße reinholen. Da ich, trotz Latinum und Graecum, ein grundlegendes Unverständnis für Fremdworte habe, muss ich sie mir in etwas möglichst Einfaches übersetzen. Meistens nehme ich dafür die erste Assoziation, auch wenn sie falsch ist.

    Sich die Straße reinzuholen mag im ersten Moment verwegen klingen, weil es mit Dreck und Rohheit verbunden wird — auch wenn es in der deutschen Kultur und im Christentum, anders als in den meisten Kulturen und Religionen, keine Reinigungsrituale gibt: weder waschen wir uns beim Betreten einer Kirche noch haben wir grundsätzlich Schuhe fürs Haus und Schuhe für Draußen, die wir auch draußen lassen —, ist die Straße ein Ort, bestehend aus vielen Orten,an dem wir einen nicht unwesentlichen Teil unseres Tages verbringen.

    Die Straße und all ihre Erweiterungsräume wie Bahnen, Bahnhöfe, Einkaufszentren etc, sind der einzige Ort, an dem wir unkuratiert andere treffen. Lebten wir in einem Computerspiel (eine meine Lieblingsfantasien), wäre sie das Portal zu allen anderen Welten. Wir essen, reden, streiten, treffen und trennen uns dort. Es gibt Dinge, die wir dort zum ersten Mal tun. Manche Menschen sterben auf der Straße. Manche schlafen dort. Kinder lernen darauf in Schuhen zu laufen, fallen hin und berühren sie mit ihren Händen, vermutlich irgendwann zum letzten Mal. — Das Leben findet auf der Straße statt. Also warum soll ich nicht mitbringen und verwenden, was ich dort gefunden habe.

    Und letzten Endes ist die Straße die Umgebung der Räume, sie levelt alles, was auf und an ihr stattfindet. Eine bodenlose Galerie kann deswegen ein Raum ohne Boden sein, weil ihre Straße einen hat.


    __


    Lucas Hirsch ist in Düsseldorf geboren und aufgewachsen. Seine Galerie befindet sich in der Birkenstraße 92 in Flingern, Düsseldorf. Die Öffnungszeiten sind als flexibel zu betrachten. Die Arbeiten darin bewegen sich zwischen sehr wertvollem Müll und trashy Schätzen. manche von ihnen hinterlassen irreversible Spuren in dem ohnehin schon eigenen Raum, alle von ihnen aber passen in eben diesen Raum, zu dem eigentlich nichts passt außer das Loch in seiner Decke.

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