
Ein kurzes Gespräch mit Talisa
Nimmst du die Spuren von Menschen oder Arbeit in Kauf? Hindern Spuren dich daran, Fotos zu machen oder suchst du bewusst danach, um es in den Fokus zu nehmen?
Der Begriff Spur kommt vom althochdeutschen spor und bedeutet Fußabdruck. Ichnusa ist der Titel meiner neuen Publikation und der ursprüngliche Name Sardiniens. Er kommt aus dem Altgriechischen (Ichnôussa), was Fußabdruck bedeutet (wobei in diesem Fall der Fußabdruck Gottes gemeint ist, der die Insel geformt hat). Spuren sind ein wichtiger Teil in meinen Fotografien. Sie sind mal mehr, mal weniger zu sehen. Oft fotografiere ich Landschaften oder Orte, die nach unberührter Natur aussehen, aber eigentlich menschengemacht sind (Landschaftsgärten, botanische Gärten, Zoos). Dabei versuche ich Hinweise auf ihre “Gemachtheit” im Bild zu verbergen, da ich in den Fotografien die Illusion der ursprünglichen Natur bewahren will.
In meiner Arbeit werden aber auch Bauwerke zu Motiven, die als Spuren einer anderen Zeit funktionieren. Sie haben keinen Nutzen mehr und werden von der umliegenden Natur vereinnahmt, doch die alten Geister schwirren noch umher.
Wie wichtig ist dir Abwesenheit?
Abwesenheit ist mir sehr wichtig. Oft fotografiere ich zu Zeiten, an denen die von mir besuchten Orte leider auch von vielen Touristen besucht werden. Ich muss also manchmal wirklich lange warten, bis der letzte bunte Rucksack aus meinem Blickfeld verschwunden ist, damit der Ort auf dem Bild so aussieht wie in meiner Vorstellung. Umso öfter ich mir die Bilder danach ansehe, desto mehr verblassen in meiner Erinnerung die erlebten Momente und das menschenlose Motiv wird in meinem Kopf immer mehr zur vermeintlich erlebten Realität.
Die einzigen menschlichen Figuren sind Statuen.
Statuen sind toll, da sie so wirken, als wären sie schon immer da gewesen und als würden sie für immer bleiben.
Zeitlosigkeit / Zu spät kommen: Du hättest zu der Zeit gar nicht da sein können. Das, was du fotografierst, ist zum Teil schon vorbei, wie zB das Kinderhotel. Die Orte sind zu dem geworden, was sie jetzt sind …
Gerade dieses Vergangene finde ich spannend. Die Gebäude wären zu der Zeit, in der sie noch intakt und bewohnt oder be“arbeitet“ waren für mich irrelevant gewesen, sie werden für mich erst interessant, wenn das menschliche Leben daraus verschwindet und die Natur übernimmt. Pflanzen wachsen rein (und raus), das Wetter lässt das Material bröckeln und manchmal bleibt so wenig von der ursprünglichen Struktur stehen, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie es mal ausgesehen hat.
Insofern würde ich nicht sagen, dass ich zu spät komme, sondern genau zur richtigen Zeit.
Ist es dir wichtig, in deiner Arbeit einen zeitlosen Raum zu schaffen, frei von zB tagespolitischen Einflüssen. Kann man in 30, 40, 50 Jahren sehen, dass deine Bilder von heute sind? Bzw, wäre dir das wichtig? Oder steht die Zeitlosigkeit im Fokus als wichtiger Bestandteil deiner Arbeit?
Ich möchte, dass meine Fotografien nicht die Realität abbilden, sondern wie vage Erinnerungen oder Traumsequenzen wirken und keiner bestimmten Zeit zuzuordnen sind. Durch die analoge Optik sieht man nicht, wann die Bilder aufgenommen wurden, sie hätten genauso gut vor 30, 40, 50 Jahren gemacht worden sein. Also hoffe ich, dass sie in der Zukunft genauso zeitlos wirken.
Deine Arbeit hat in botanischen Gärten begonnen. Weißt du noch, was du dort gesucht hast?
Ich bin am Anfang meines Studiums in den botanischen Garten gegangen, da ich einen Ort suchte, in dem die Fotografien nicht so aussehen, als wären sie in Düsseldorf gemacht worden. Ich habe dort Close-ups von Pflanzen gemacht und wurde in der Akademie dann auf die Fotografien von Karl Blossfeldt aufmerksam gemacht. Er hatte die gleiche Idee, allerdings über 100 Jahre vor mir.
Weißt du schon, wohin es als nächstes geht oder wonach du suchen willst?
Überhaupt nicht, aber ich freu mich schon drauf.
Auszug aus Entgegen aller Verlorenheit
Als ich ein Kind war, entdeckte ich einmal im Traum zufällig ein fremdes Dorf neben dem unseren. Mein Weg dorthin führte durch schilfbedecktes Moor, ähnlich der immer feuchten Wiese hinter dem Wald, in der wir Schlangen vermuteten, aber nie fanden. Die Farben des Schilfs waren gedeckt und doch leuchtend, Zwischenfarben, neue Töne, deren Namen ich nicht kannte. Und eigentlich war das Nebendorf ganz gewöhnlich ‒ Menschen dort und Häuser, wie in meinem auch. Und doch hatte es einen bestimmten Glanz, eine ihm innewohnende Schönheit und Besonderheit, die ich noch heute fühlen kann. Den nicht mehr allzu langen Rest meiner Kindheit bis zu dem Moment, in dem ich, ohne es zu wissen, das letzte Mal spielte, dem Moment, in dem mir bewusst wurde, was ich da tat, und mir fortan der Weg zum Zustand vor dieser Bewusstwerdung versperrt blieb ‒ diese restliche Zeit verbrachte ich oft damit, das Dorf zu suchen. Ich fand es nie.
Beim Anblick von Ruinen gibt es ein ähnliches Moment der Bewusstheit, wie ein Dreh- oder Kippmoment … Es ist vielleicht das Erkennen der Gemachtheit der Häuser. Selbst die, die uns alt erscheinen, sind doch nicht allzu lange da, gemessen an natürlichen Behausungen wie Bäumen, Löchern oder Höhlen. Und doch setzen wir ihr Dasein und ihren Schutz oft voraus. Je höher die Gebäude und je künstlicher und unzugänglicher ihr Material, desto fremder werden sie uns. Dabei sind sie eigentlich nichts anderes als eine Erweiterung des Körpers. Ohne Dankbarkeit erwarten wir ihre Verfügbarkeit, wie von unserem Körper selbst. Beim Anblick von Ruinen sickert das Gefühl von Stein-auf-Stein, von Gerüst und Fassade, von Händen, Zeit und Arbeit durch die Augen ins Bewusstsein zurück und zeigt uns die Häuser als das, was sie sind: eine Heimat auf Zeit. So wie der Körper, auch wenn wir meist mit der Verdrängung dieser Tatsache beschäftigt sind. Er ist das einzige …. Außer ihm gibt es kein temporäres Zuhause, für das wir nicht auf irgendeine Weise zahlen, es uns verdienen müssen: der Raum, in dem unser Bett ist, alle Räume, in denen wir arbeiten und uns kümmern, Keller und Lager, Terrassen, Hotels, Bewegungsräume wie Autos, Züge, Flugzeuge und Schiffe … Je teurer und schwerer der Zugang zu erlangen ist, desto wertvoller scheint der Aufenthalt dort.
Auch das, was wir „Zuhause“ nennen ‒ erst selbstverständlich und ohne darüber nachzudenken, dann bewusst, nach einiger Überlegung und nicht ohne Qual oder Zweifel ‒ ist ein Ort, der verdient werden will: Wider alle Zufälle, Unsicherheiten, Kämpfe und Liaisons muss er festgehalten und doch immer wieder neu vermessen werden. Es gibt keine Selbstverständlichkeit in unserer Herkunft und Heimat, unabhängig davon, ob diese nun gerade aus Menschen, Orten oder Geschichte(n) besteht. Auch gibt es für jedes Gefühl, das einen Namen hat, eine eigene Nuance, die vielleicht nur in einem Moment in einem einzigen Bewusstsein zum Tragen kommt und eben nicht benennbar und beschreibbar ist, zumindest nicht in all ihren Facetten und nicht in einem einfachen Drei-Buchstaben-Wort wie Wut, das für jeden Menschen ein eigenes Empfinden bedeutet.
Insofern kann ich dankbar sein, das fremde Dorf nie gefunden zu haben, denn in dem Moment, in dem ich es tatsächlich betreten hätte, wäre es zerstört. Nur in meinen Träumen behält es, was ihm seinen Glanz verleiht: die Gewissheit, dass es allein mir gehört.
Sowohl Orte, die nur in unserer Fantasie existieren, als auch solche, die verfallen oder zerstört sind, leben in unserer Erinnerung weiter ‒ so, wie wir sie wahrgenommen und erträumt haben, und unverändert in dieser Form, wie das Kinderhotel Casa al mare ‒ Francesco Sartori, das Kindern von Bergarbeitern den ersten und vielleicht auch einzigen Urlaub ihres Lebens ermöglichte. Während die Meereskolonie mit ihren ausladenden Schlafsälen und dem eigenen Schwimmbad zur Ruine verfällt, existiert das, wofür sie gebaut wurde, die Menschen, die es bewohnten und belebten, ihre Geschichten und Begegnungen in der Erinnerung von Iride Peis Concas, die dort arbeitete, weiter.
Orte wie dieser setzen die als natürlich behauptete gesellschaftliche und hierarchische Ordnung außer Kraft. Gerade hier können sich solche Momente im getakteten Ablauf des Jahres öffnen, die intensiv und als besondere erinnert werden. Und das Erzählen dieser Momente und Geschichten ist wichtig, um das Wesen solcher Orte und die Möglichkeit ihrer Existenz lebendig zu halten.
Wir können uns so gut vorbereiten und so sehr wappnen, wie wir wollen, am Ende entscheidet das Wetter, wie wir uns wirklich fühlen, und der Ort, welches seiner Gesichter er uns zeigt. Allein die See hat unendlich viele.
Während ich an der Nordsee versucht war, mich hinter einer Sanddüne zu verstecken und dort für immer zu bleiben, begrüßte die Ostsee mich mit einer fulminanten Quallenplage, in deren Zentrum ein kleiner Junge im Sand saß, der mit der für Kinder in dieser Hinsicht so typischen Schmerzfreiheit die Quallen als Material begriff und sie mit der feierlich-lächerlichen Ernsthaftigkeit eines Prokuristen mit seiner Schaufel fein säuberlich zerteilte, um sie nach einem immer unbekannt bleibenden Plan in verschiedene Sandlöcher hinein zu sortieren. Denn das ist es, was wir für die Welt im Allgemeinen und die Orte, an die wir reisen, im Besonderen bedeuten: mehr oder minder brutale, immer aber unpassende Eingriffe, Lärm, Dreck.
Pikiert über die natürlichen Gegebenheiten, hegen wir zugleich den Anspruch, freudig erwartet zu werden und das Vorgefundene in die vermeintlich hochkomplexe Befindlichkeit einzupassen, die wir als Reisegepäck mitschleppen. So suchen wir aufdringlich nach einer Spiegelung von uns in Fundstücken, Talismanen, Straßenware ‒ zwischen Tand und Selbsterkenntnis.Doch selbst die Straße gehört den Ziegen, der Boden mit seinen Höhlen, Tälern und Höhen allem, was kriecht und krabbelt. Die Nacht haben wir noch nie zu nehmen gewusst und in der Luft konnten wir uns nur eine vorübergehende und maschinenabhängige Bleibe ergaunern. Unsere Körper sind als Vehikel der Mobilität unzureichend, schlecht ausgestattet für wahre Höhenflüge und generell von unseren mentalen Wasserköpfen an der Schnelligkeit gehindert, die wir gebraucht hätten, um dem unangenehmen Teil der Selbsterkenntnis (der Einsicht) zu entkommen, so wie wir es schon seit Reisebeginn in hastiger Geschäftigkeit versuchten.
Doch eine ordentliche Grenzerfahrung lässt sich, wenn nötig, auch oder sogar gerade in einem weichen Hotelbett oder auf einer ungemähten Wiese machen ‒ Hauptsache, das Gelände ist uns unbekannt und der Notausgang nicht sichtbar. So ist es, wie wir reisen: Unsicher, vulnerabel, der Lächerlichkeit preisgegeben, auf andauernder Suche nach einem bekannten Moment und mit zu viel Gepäck.
Talisa hingegen nimmt an einer Stelle, die wir übersehen hätten, einen bis dahin unentdeckten Weg zu dem verheißungsvollen Ort nebenan, den ich nie gefunden habe. Inmitten einer Menschenmenge unter einem Lärmteppich, hinter grobem Glas wartet die Vertrautheit eines vage bekannten Duftes, ein Rastplatz für einen Moment der Ruhe, wie ihn die typische Gangart einer Person, die man einmal gut kannte oder sogar liebte, auf der Straße oder der Anblick des Fensters zu dem Zimmer, in dem man einmal gewohnt hat, im Vorbeigehen schaffen kann.
Sie bringt von der Reise ein Abbild dieses einen Ortes aus vielen, den wir nie finden, aber immer vermissen werden. Aus der Begrenztheit seines Rahmens, einer Sicherheit für die Wucht der Erinnerung an eine bis hierhin unbetretene Heimat, blickt er uns entgegen: unberührt in den Zeiten, von jedem Wetter und allen Tagen, entgegen jeder Verlorenheit.
aus: ICHNVSA von Talisa Lallai // 2023, Verlag für moderne Kunst
Design: Studio Thomas Spallek // Text: Thea Mantwill // Druck: Druckerei Kettler
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Talisa Lallai lebt und arbeitet in Düsseldorf.
In ihrer Arbeit geht sie Fragen von Herkunft und Identität nach, die ihren Anfang autobiographisch im eigenen Ursprung als Kind süditalienischer Eltern nehmen. Auf Reisen entsteht ein Bildrepertoire einer abstrakten und idealisierten Idee ihrer fiktiven Heimat. Talisas smells of home sind Kamingeruch im Winter und anytime: Tomatensoße. In fragwürdigen Zeiten guckt sie Trash TV oder Vögel - irgendwer weiß immer, was zu tun ist.
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