Englische Siedlung. Zwischen den ehemaligen Kasernen gucken kleine Jungs Videos. Ihr Boss ist nicht dabei. Vassili guckt über sein Herrschaftsgebiet. Hat denen ja auch keiner gesagt, dass er der Boss ist. Er ist sich noch nicht ganz sicher, wer dümmer ist: die kleinen Menschen oder die großen.
Das Schwierigste ist das Aufstehen. Denn wenn man aufsteht, geht es noch darum, anzufangen, und das ist die Crux. Ist man erst einmal aufgestanden, gibt es zwei Möglichkeiten:
1. Man bleibt während des Aufstehens liegen. Schafft man es, länger als 30 Minuten und / oder bis nach acht Uhr morgens liegend auszuharren, ist der Tag gelaufen und anderen Dingen vorbehalten.
2. Steht man während des Aufstehens auf, folgt ein unvermeidbarer Cappuccino, woraufhin es schon gilt, mit dem Ausredenfinden zu beginnen. Ausreden zu finden ist unerlässlich für den standesgemäßen Arbeitsbeginn, vor allem vor acht Uhr.
Bei den Ausreden kommt man eigentlich ganz schnell in einen Flow, man kann sich z.B. an den Tisch setzen und feststellen, dass es zu leise ist — ein optimaler Grund, wieder aufzustehen und den Fernseher anzuschalten, wobei es wichtig ist, sorgfältigst eine bekannte Serie auszusuchen, aber nicht dieselbe wie gestern — es braucht “Stimmen wie Freunde im Raum”.
Hat man die erste Ausrede erledigt und einen kindheitsgleichen Zustand hergestellt — der Fernseher läuft —, ist schon viel geschafft! So kann man nahtlos zur zweiten übergehen: z.B. ist der Tisch zu voll. Ein optimaler Auslöser, das Fenster zu kippen (oder zu öffnen oder zu schließen), den Tisch, auf dem bisweilen, aber nicht immer, Vassili herumwandert und die Dinge inspiziert, aufzuräumen und sich daraufhin der Kulmination der Prokrastinations-Symphonie hinzugeben: dem Staubsaugen. Gäbe es keine wichtigeren Aufgaben als das, wie zum Beispiel diese Kunst, von der immer alle reden, oder das immer über allen hängende Damoklesschwert der Bürokratie, wäre die Erfindung des Staubsaugers in der größtenteils niederschmetternden Geschichte der Menschheit verpufft wie die des Amphibienfahrzeugs.
Wenn man dann am geputzten Tisch sitzt, zwischen der sparkling joy aller sortierten Habschaften und eines wollmausfreien Raumes, führt kein Weg mehr an der Erkenntnis vorbei: die Stimmen der Freunde reichen nicht. Es ist abermals zu leise. Ambient Sounds müssen her, denn es reicht nie, wir brauchen: mehr Gewitter, mehr Regen.
Ja, und dann bleibt einem auch wirklich nichts anderes übrig, als schon mit dem Arbeiten zu beginnen: Man öffne das Dokument und starre immer auf denselben Satz, den letzten. Mindestens zwei Stunden lang. Wir nähern uns der Mittagszeit.
VASSILI: Yummy, Apple Cake Pops … ach nein, ich esse ja nur Bio! Die Amsel da ist bestimmt bio, die nervt mich schon seit Tagen. Die hat mich noch nicht gesehen, die plumpen Zweibeiner stören sie ja auch nicht. Dumme Flügelkugeln. Wait a second … FEEOOP … oh. Warum springen die immer so weit, ohne richtige Beine? #justhow
„… und dann merke ich nach zwei, drei Stunden: ich hab ne Schreibblockade. Und dann schreib ich irgendwas, z.B. meine Memoiren.“
Man schreibt ja dann doch meistens irgendwas. Zum Beispiel damals, als man noch dieses Leben hatte, von dem auch immer alle reden, Gedichte. Die waren mehr Output für sich selbst als Material, mit dem weitergearbeitet werden kann, aber es gab sie. In diesem Damals hat man aber auch nur sechs Stunden geschlafen — eine Fähigkeit, die in der Gemütlichkeit und dem Erwachsenwerden einen leisen Tod starb, so wie die Gedichte nun eben von den Memoiren abgelöst wurden. Älter werden halt: passiert.
„Manchmal denke ich dann: boah, das ist richtig gut und will all das andere sofort wegschmeißen.“
Gefährliche Zustände. Jedenfalls gibt es drei Dokumente, die nach Themen sortiert und immer geöffnet sind, und irgendwann findet man sich plötzlich in einem Drehbuch wieder, mit Haut und Haar, z.B. indem man auf dem (in weiser Voraussicht oder: Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn) frisch gesaugten Teppich liegt, mit ausgebreitetem Haar, wo man über den Fortgang einer Geschichte oder den Schmerz einer theoretischen, aber nachempfundenen Figur weint, aber die Stimmen sind Freunde und das Schlimme ist, dass diese Figuren im Fernseher — TV was my romance — ohne ihre Stimmen nicht leben können, versteht ihr? Was im Kopf passiert, ist eben realer als die Realität, von der auch immer alle reden, vor allem wenn in der gerade nichts passiert.
Im Grunde spielen alle zu einem Großteil ihrer Zeit in einer lachhaften Ernsthaftigkeit irgendetwas, der Opi in dem schönen Kimono spielt performativ-meditatives Blumengießen (eine großartige Darbietung), die Kinder spielen, was der Boss sagt, bis er jedem Einzelnen mitteilt, wann es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Dann spielen sie Gehorsam, so wie die meisten von uns es den ganzen Tag über tun, um Geld dafür zu erhalten. Man kann nicht früh genug anfangen zu üben, es ist ein unangenehmes Kunststück. Der Boss spielt Boss und Vassili spielt in seinem Kopf unendlich oft durch, wie er vom Balkon hinunter in die Ecke springt, um der Freigänger zu sein, der dort unten gerade rotzdreist über seine Wiese flaniert — aber am Ende springt Vassili nie. Vivien liegt auf ihrem Teppich und spielt die Szenen, die geschrieben werden müssen, im Kopf durch, empfindet alles so nach, wie es gewesen sein muss oder gewesen sein wird, und am Ende der Tortur ist es so gut wie geschrieben.
VASSILI: Jetzt guckt der verdammte Kater … mich an? Sieht er mich? — Schnell runter. Mann, ist das peinlich. Der streunt da unten lang, pisst in mein Revier und ich sitz hier wie ein parfümierter Haustiger und kann nur zugucken. Sieht er meine Pfoten? Schnell auf den Hocker! Da wollt ich eh grad hin.
Die Zeit ist auch nicht kleinzukriegen, weder die tatsächliche noch die empfundene: manchmal läuft eine Szene schon im Kopf, sie ist gut, ergibt Sinn, ist wichtig für den Fortgang der Geschichte. Aber diese kann nur linear geschrieben werden, zumindest in Viviens und meiner Welt, und deswegen muss die Szene warten, bis wir es geschafft haben, uns einen Weg von da, wo wir jetzt sind, zu ihr zu schreiben. Dann ist ihr Moment.
Wichtig ist außerdem — und das ist keine Ausrede, sondern eine Grundvoraussetzung — in der Wohnung ganz allein zu sein. Egal, wie viele Zimmer und verschließbare Türen es gibt (das sind erfahrungsgemäß in den Bauten von Kunstschaffenden ohnehin nicht mehr als ein oder zwei toilettenlose Räume), es wird nicht reichen, denn um schreiben zu können, braucht es die Gewissheit, die Vassilis Grundgefühl gegenüber der Welt entspricht: dass sie einem allein gehört.
Es braucht Platz und Ruhe (die nach Belieben mit Gewitter und Regen gefüllt werden kann), um in der alten Welt eine neue entstehen zu lassen, so wie für jede fragile und spielbare Tätigkeit. Das Schreiben ist ein bisschen wie ein seltsames Tier, das es anzulocken gilt, und dessen Regeln und Vorlieben schwer herauszufinden sind. Trotzdem gibt es bestimmte Rhythmen, beispielsweise ist die beste Zeit zu schreiben morgens, während man sich abends die Sachen nur vorstellen kann, gucken, wo es hingeht. Manchmal sitzt man auch nur den ganzen Tag dort, stellt sich fünf bis sechs Stunden lang alles vor, spielt es nach, um sich am nächsten Tag hinsetzen und es einfach runterschreiben zu können. Und manchmal hat man alles richtig gemacht und es passiert doch nichts, das Schreiben, die Szenen und Stimmen lassen sich einfach nicht blicken, so wie ich um den Grünen Turm herum nachts immer noch die schwarze Katze suche, die ich dort einmal getroffen habe und die mir folgte. Wir haben uns so gut verstanden: sie hat immer ganz brav ihre Vorderpfoten nebeneinander gelegt, wenn ich sie mitten auf der Straße streichelte, ich bin mir sicher, dass sie in Wahrheit meine ist. Aber so sehr ich sie suche, sie lässt sich nicht mehr blicken.
Insofern müsste Vassili das Dilemma in all seiner Katzenhaftigkeit nachvollziehen können, aber das tut er natürlich nicht, denn er hat niemandem befohlen, zu schreiben, warum sollte man so etwas Sinnloses also trotzdem tun.
VASSILI: Hrmpf.
Auch wenn ein Film aus so viel mehr besteht als dem Schreiben, ist es doch dieser Teil der Arbeit, dessen Bewältigung in einen Zustand der Entspannung führt, denn er ist der Boden für alles, was darauf folgt und alles, was dazwischen liegt: der Idee und der fertigen Arbeit. Das Malen als jahrelange Bilderfahrung ist in Viviens Filmen immanent, als dauerhafte Praxis aber ungünstig, wenn man wie sie Sachen und Besitz hasst, alles zu viel Material ist. Dazu kommt, dass das Malen ab einem bestimmten Punkt nicht mehr gereicht hat, da kam einfach keine Schwelle, die übertreten werden musste, nichts, was aneckte, woran man sich abarbeiten konnte. Bewegtbild und Ton enthalten so viel mehr Informationen, dass es einfacher sein kann, daraus etwas zu schaffen, das jemanden berührt, so wie es einfacher ist, persönliche Momente darin zu verarbeiten. Die eigene Geschichte und Fiktion werden vermischt, so dass es als Betrachter:in nicht mehr zu entwirren ist — und das ist der Moment, ab dem die kleine Selbstschutzmauer zwischen der im Film erlebten Geschichte und dem eigenen Erleben stürzt, in dem die künstliche Distanz zum Wahrgenommenen nicht mehr aufrechterhalten werden kann („Meine Name ist Meier und ich bin Rezipient:in“) und damit ein Moment der absoluten Empathie.
Natürlich kann das unangenehm sein, aber es hat auch niemand eine Wellness-Erfahrung versprochen. Je schöner, anziehender, einfacher zu betreten und zu verfolgen die gezeigten Welten sind, desto eher kann man darin Themen behandeln, die schwierig sind, nicht so leicht anzufassen und mit denen sich eigentlich niemand befassen möchte.
Wie immer gibt’s auch daran etwas auszusetzen:
— Ich kann nicht alle Filme schauen, sagt Viviens Mutter, sonst würde ich ja alle Menschen verstehen.
VASSILI: Bin ich auch nicht der krasseste Kater hier, dann immerhin der schönste. Ich kann mit diesem vorzüglichen Fell unmöglich in die Hecke springen. Da wäre meine ganze Integrität dahin!
So gehen die Tage, liegen und schreiben, „und wenn ich denke, dass ich da raus will, denke ich ja immer, dass ich bei Kaufhof anfangen will — I want an easy job”. Und wenn man einen hat, schraubt er sich innerhalb kürzester Zeit in ein solches Maß an individuell empfundener Unerträglichkeit hinein, dass man wieder in die Kunst will, whatever that means. Oder es ist eigentlich ganz in Ordnung im Bureau oder der Damenoberbekleidungsfachabteilung, aber man realisiert: „Ich muss Kunst machen, weil die anderen kriegen’s nicht ganz hin … da fehlt noch was.“ (*)
Und auch wenn Vivien damit ein bisschen den Grundgedanken meines Blogs torpediert, hat sie Recht: es ist eben manchmal unerlässlich, dass noch eine andere Stimme da ist und es ist — vor allem dann, wenn es keine weiße, von Dad finanzierte Stimme in den richtigen Turnschuhen ist, die allen Ernstes Zeit hat, Marx zu lesen und darüber zu schwadronieren, aber keine Stunde ihres Lebens aus Notwendigkeit für Geld gearbeitet hat — nichts falsch an der Feststellung, dass das die eigene Stimme ist. Was natürlich nicht bedeutet, dass das Thema der künstlerischen Arbeit grundsätzlich die individuelle Betroffenheit von gesellschaftlichen oder politischen Umständen oder eine bestimmte Aussage sein muss oder ist, aber das Gesamtbild vom eigenen Standpunkt aus, geprägt von der Umgebung, der Herkunft, der Position und einem bare minimum an Selbstreflexion ist als Basis dieser Arbeit unerlässlich — ganz unabhängig davon, ob das der Ausgangspunkt oder die Aussicht ist, an der man sich selbst sehen möchte oder nicht.
„Natürlich hätte ich auch voll Bock, nur schöne Sachen zu machen, aber das kann ich nicht, so, wie das Leben ist“ — und am Ende eines Tages, oder zumindest jedes zweiten, steht die frustrierende wie rettende (und auch ein bisschen romantische) Erkenntnis: „Ich kann nichts anderes als Kunst machen“.
Vassili hockt vor der Tür seines Königreiches, edel und angepisst, und befiehlt die Öffnung. Vivien sucht die Leine für den verstimmten König, der Vogel sitzt auf den Balkonblumen und guckt dreist und niemand muss nach Hause gehen, weil der Boss heute nicht da ist. Alle Kinder sind draußen.
* Vivien in a nutshell, always sassy: gut, dass ich im Konzept des Blogs meinen romantisch bis kitschigen Gedanken der Gewissheit darüber, dass immer jemand weiter arbeitet, wenn man selbst gerade nicht kann, formuliert habe und Vivien das in einem Satz wegwischt wie Vassili eine Fliege. **
** Wobei sich der Gedanke, dass immer irgendwo jemand arbeitet, schreibt, sammelt, plant, auf dem Teppich liegt und sich in eine Geschichte hineinweint, dem Gedanken, dass man selbst in gewisser Hinsicht die einzige Person ist, die die eigene Arbeit weiterführen kann, gar nicht unbedingt widerspricht. Abgesehen davon, dass die logische Konsequenz daraus ist, dass die eigene Arbeit gegenüber moneyjobs (trotz Abhängigkeit und existenzieller Ängste) allein schon deswegen immer die höchste Priorität hat, weil es die einzige Position ist, in der man nicht lückenlos ersetzbar ist, sind es wohl einfach zwei Seiten einer Medaille und beide romantisch. Und nichts Neues: Minderwertigkeitskomplexe mit Größenwahn zu vereinen hat man ja schon zu Genüge im Studium geprobt, das bisschen Ambiguitätstoleranz schaffen wir jetzt auch noch.
VIVIENS GENUSSREISETIPPS
Armaturen polieren
Ausflug in Parfümmanufakturen
Benzingeruch
___
Vivien Mohamed lebt und arbeitet in Düsseldorf, wäre aber lieber in Brela.
Ein Mosaik von Empfindungen, verschluckt im Wall (ein Blitz aus Feuer und Wasser entstanden), eine Überreizung ganz gleich einer Katze mit abruptem Ablehnen einer streichelnden Hand. Irgendwo muss man ja anfangen: mit 9 Jahren begriff sie, dass die Welt nicht ihr gehört, dass sie nicht dazugehört, dass sie verlassen ist. Irgendwo muss man wieder aufhören: Noch heute sucht sie immerzu nach Wegen, die Zeit schneller vergehen, voranschreiten, vertagen zu lassen.
Vivien ist der festen Überzeugung, dass der Fernseher ihr Deutsch beigebracht hat.
___
photo by Vivien Mohamed
text & concept by Thea Mantwill
Comments