Obwohl ich niemals werde sehen können, was alles hinter den Fenstern, Wänden, Türen, Toren, Vorhängen, Pflanzen, hinter den Mauern der Häuser und in den Gebäuden der Stadt vor sich geht (und vermutlich auch nicht alles sehen und aushalten könnte, ohne zu verrutschen), weiß ich doch, dass es all dieses Ungesehene ist, das die Stadt zu einer Stadt macht. Die Lebendigkeit entsteht aus dem Wissen, dass immerzu etwas passiert, ein vages Versprechen auf Zukunft, denn egal was es ist, das heute passiert, es schafft jetzt schon das Morgen. Wenn ich abends meine Schuhe raus stelle, werde ich morgens schon wieder hinein schlüpfen. Wenn ich sie dann schon trage, kann ich auch laufen.
Der Puls der permanenten Ahnung, die Freude über und der Verdruss am Leben der anderen, das immer zu nah, zu fern, zu da, zu schön, zu trist, zu hässlich, zu saftig, zu aufdringlich ist - sie leiden nicht genug, sie leiden nicht so wie ich, sie leiden am Falschen, die leiden ja gar nicht! -, diese Ahnung und ihre Aufdringlichkeit erinnern im Zweifel immer daran, dass wir auch nur ein Teil davon sind, manchmal eine frustrierende und manchmal eine rettende Erkenntnis.
Als ich ein Kind war, gab es nicht nur die Diskette (I will always miss you), Handys mit ausfahrbaren Antennen und s/w-Display und Schreibwarenläden, in denen Sailor-Moon-Hefte und Diddl-Blöcke gekauft wurden, sondern auch diese Wahrheit: ich sehe eine Person, wenn sie da ist. Sonst nicht. Kein Social Media Stalking, keine Stories und Slides, keine Screenshots und Fotos. Als ich mich eines Tages also im Zug verliebte, musste ich aufs Fahrrad steigen und in die 12 km entfernte Nachbarschaft fahren, um mich zumindest in derselben Stadt wie die kurzzeitig interessanteste Person der Welt zu befinden. Das tat ich dann: religiously fuhr ich in diese vordergründig todlangweilige, verlogen friedliche Kleinstadt, um durch ihre Straßen zu spazieren - die aufregendsten überhaupt - und mich zu fragen, ob die Person das auch tat, vielleicht eben noch, vielleicht gleich dann, vielleicht täglich oder manchmal, ob sie diesen Efeu kannte, diese Stelle am Fluß mochte, dieses Eis auch am besten fand. Über all den Eventualitäten, die gleichzeitig mit mir in der Stadt passierten und täglich mehr wurden (mein Wille zur Realitätsflucht kennt keine Grenzen) vergaß ich die Person und verliebte mich in die Straßen, aber da es sich ohnehin um einen stets bemühten Punk mit verdächtig sauberen Schuhen und glänzenderem Haar als meinem handelte, wie ich später im Zug feststellte, war das wahrscheinlich auch gar nicht so schlimm.
Warum gehen wir in die Häuser, in denen von uns verehrte Personen lebten, aßen, schliefen, fickten, schissen, starben, und begaffen ihren Tand und ihre durchgelegenen Betten, 20, 50, 100 Jahre später? Was erhoffen wir zu finden? Warum wollen wir unbedingt die Rituale, Ess- und Schlafgewohnheiten der anderen wissen, die immer interessanter sind als die eigenen, warum fahren wir an Orte, durch die andere Jahrzehnte oder Jahrhunderte zuvor reisten und sie damals als etwas beschrieben, das wir heute gar nicht mehr finden können, warum essen wir, was die (noch nicht einmal real existierende) Hauptfigur in unserem Lieblingsroman gerne isst, warum funktionieren Produktplatzierungen in Serien so gut, warum hört alle Welt wieder running up that hill? Die Hunger-ähnliche Sehnsucht, die uns meistens antreibt - denn Menschen sind faul und bewegen sich erst, wenn es unbequem wird - kann gelockt, gefüttert und vielleicht sogar kurzzeitig befriedigt werden durch Konzepte wie (gutes) Storytelling oder Open Worlds. Wir lieben Geschichten und wir lieben Geheimnisse, so klein sie auch sein mögen. Vielleicht sogar: je kleiner, desto besser. Kinder lernen vor allem durchs Kopieren und es gibt keinen Anlass zu glauben, dass sich das irgendwann in unserem Leben mal ändert. Warum auch? Es funktioniert doch so.
Als ich Murakami las, wollte ich immer Toast und Misosuppe essen und dazu ein Bier trinken, und ich wollte, dass es draußen heiß war und eine Katze vorbei lief, die ich dabei beobachten konnte. Als ich bei Djuna Barnes las, dass Frances Steloff immerzu Sonnenblumenkerne aß, brach bei mir eine wahre Sonnenblumenkernmanie aus (aber ich konnte sie nie so knacken, dass es cool aussah, das gab ich schnell wieder auf). Wenn ich wirklich nicht rausgehen kann, aber weiß, dass ich es bald wieder muss, baue ich mir einen Avatar mit pinken Haaren und laufe durch SimCity, am liebsten in der Dämmerung und an Brunnen vorbei, aber auch gerne am Meer. Die pixeligen Vögel vor dem viel zu grellen Himmel, das gelbe, zu saubere Licht der Straßenlaternen auf den immer glatten, immer sicheren Bluescreenstraßen erinnert mich daran, wie die Luft im Draußendraußen riecht, wie sehr ich die Blaue Stunde mag und die Häuser in meiner Lieblingsstraße (sie hat Pflastersteine und einen Wendekreis an ihrem sackgassigen Ende, außerdem ein Haus, das aussieht als wäre es aus SimCity exportiert und so schließt sich der Kreis) und dann weiß ich, dass ich bald wieder rausgehen werde.
Die Verheißung, die über unbekannten oder irrealen Welten schwebt, stößt uns auf die, die der bekannten inne wohnt, denn daher kennen wir sie ja: die Faszination, die Ahnung, die Hoffnung auf Umbruch, die plötzlich wieder über den Straßen unseres Alltags liegt, vor allem in sich verändernden Jahreszeiten, vor Stürmen und in Momenten des Phasenwechsels. Wir finden sie bestätigt in diesem einen Satz in diesem Buch, diesem Bild, diesem Moment, dieser Szene, diesem Film … wir finden irgendwo immer ein Zeichen dafür, dass wir in unserer diffusen Erwartung richtig lagen, dass sie sich gelohnt hat, dass jemand anderes gestern, vor fünf Jahren, vor drei Jahrzehnten etwas ähnliches dachte, hoffte, wünschte, verfluchte wie wir - und es formulierte. Und schon ziehen wir los, zerlegene Betten begaffen und krude Essgewohnheiten kopieren (ich zumindest). What’s your writing routine? How does your daily practice look like? Das sind vielleicht gute Fragen, ich bin mir nicht sicher, worin ich mir aber doch sicher bin, ist, dass das Dazwischen, die Fugen zwischen den Pflastersteinen und alles, was darin passiert, am Interessantesten ist: Kleinigkeiten, Reflexe, Alltagsexzentrik, was hast du heute gefrühstückt und wie war das Wetter, was ist kaputt gegangen und wie hast du’s gefixt, welche Entscheidungen hast du aus Faulheit getroffen, lieber zu viel oder zu wenig? Wovon: egal. Gibt es eine uninteressante Frage? Oder eine uninteressante Antwort? Ich wüsste sie gerne, glaube aber nicht daran. Immer wenn ich schreibe, weiß ich danach nicht mehr, wie das eigentlich funktioniert hat, und wenn ich dann was schreiben soll, bekomme ich Panik, weil ich ja eigentlich gar nicht weiß, wie das geht. Aber ich weiß immer, was ich dabei getrunken oder gegessen habe (New York Chocolate Cake mit flüssigem Kern: sehr empfehlenswert). Wie auch immer. Ich weiß auch, wenn ich gerade nicht schreibe, nichts zu all dem interessanten Uninteressantem um mich herum dazuzuplaudern habe und nicht rausgehen kann, dass ich mich darauf verlassen kann, dass andere es tun. Ich weiß, dass in dieser Stadt Häuser mit Wohnungen und Wohnungen mit Zimmern sind, Gebäude mit Hallen und Hallen mit Arbeitsräumen, Büros mit Plätzen und Kojen mit Ateliers sind, und dass - ich könnte eine Statistik suchen und sie entsprechend zurecht quatschen, bin aber zu faul - jeden Tag jemand in einem solchen Raum etwas denkt, formuliert, ausarbeitet, das potentiell an einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit und in einer anderen Person, zu dem einen Satz, dem einen Bild, diesem bestimmten Moment wird, der etwas wieder gerade rückt, in dem sie etwas findet, das gefehlt hat. Das Wort sleeper hat einige, sehr schöne Bedeutungen: Schwelle, Schlafwagen, Schläfer/in (im Sinne einer schlafenden Person, im Sinne eine/r Agent/in), Geheimtipp, Polster. In SimCity und allen anderen Städten leuchten kleine (in meiner Realität) rote Punkte auf an allen den Stellen, wo sie gerade sind und schlafen, oder arbeiten, die sleeper, die Keimzellen und Wirte, die ahnungslosen Freaks und die, die es verstanden haben, alle, die wir kennen und die, die wir noch nicht kennen. Vielleicht ging heute jemand meine Straße entlang, der einen Satz schreiben oder eine Ausstellung machen wird, die etwas für mich ändert, ohne dass ich es genau kennen kann (denn das haben Leute auch schon mal gemacht und ich habe Sätze gefunden und Ausstellungen gesehen, auch wenn ich nicht glaube, dass sie schon einmal meine Straße lang gegangen sind, denn meine Straße ist sehr kurz und führt nirgends hin, wo man hinwollen könnte). Ich bin in permanenter Erwartung dieser Geschehnisse, weil sie ja immer irgendwann geschehen, soviel weiß ich. Das ist vermutlich ein höchst romantischer Gedanke und auch, wenn es mir vielleicht zu denken geben sollte, dass ich im Grunde immer noch nichts anderes tue als mit dem Fahrrad in die Stadt nebenan zu fahren und so ziellos wie albern aufgeregt durch ihre Straßen zu stromern, beruhigt es mich zu wissen, dass es all diese Räume, Routinen und Rituale hier gibt, in einer Zeit, die ich meine nennen kann und muss, auch wenn das Folgen nach sich zieht, und dass ich nicht zu spät komme, nur um in ein leeres Bett zu glotzen.
Die Faszination des Neuen, des Anderen, Unbekannten, Unerforschten ist oft ähnlich dem Gefühl der Verliebtheit, eine Aufregung, ein Sich-angleichen-wollen, Kopieren, Aufnehmen und wieder Fallenlassen, ein Modifizieren der Möglichkeiten für sich selbst und die inneren und äußeren Räume, in denen (endlich) gearbeitet werden kann. Der Boden ist weg, als wäre er nie da gewesen. Ich rieche die Luft, die an solchen Tagen immer gut riecht, und bin an allen Orten, in allen Gedanken, die ähnlich schwerelos sind, gleichzeitig. Ich erinnere mich und habe doch nichts gelernt. Schon greifen meine Hände, sind auf der Suche nach etwas, jemandem, den ich nicht um Erlaubnis gebeten habe. Das Wort Hunger enthält viel zu wenig Gier, und zu viel Fehlen, denn einem Luft gewordenen Körper fehlt nichts, zumindest nicht für den Moment.
Hier frage ich nach Erlaubnis, weil ich muss, und ich hoffe auf ein grundsätzliches Ja und darauf, dass alle etwas zeigen, ihre Straße, den Blick aus dem Fenster, ihre Frühstückstomaten. Wir nehmen alles, was wir kriegen, oder?