emotion X
Als ich acht oder neun Jahre alt war, träumte ich, jemanden zu schlagen.
Das hatte ich, zu diesem Zeitpunkt, schon zweimal in meinem Leben getan: Einmal hatte ich meine kleine Schwester, als sie nicht ins Bett gehen wollte, ins Gesicht geschlagen. Meine beiden Geschwister haben sich gegenseitig in eine Stimmung hochgeschaukelt, in der es ihnen unmöglich war, der Notwendigkeit und der Not nachzugeben, der ich unterstand: ich sollte sie zu Bett bringen. Es war, als säßen sie in einer Nussschale, auf begrenztem Wasser, das, eigentlich ruhig, sich durch ihre auf das Gefäß, in dem sie saßen, übertragene Bewegung mehr und mehr in eine wogende, nicht mehr zu bändigende Masse verwandelte, und obwohl die jüngere der beiden die treibende Kraft war, schlug ich die andere, weil ich in ihrem Gesicht kurz vorher einen Funken des Verstehens sehen konnte, der mich erkennen ließ, wie unerreichbar weit sie über diese Wogen auf einmal von mir entfernt war.
Ich glaube, danach habe ich zum ersten Mal ein sehr reines Gefühl von Schuld empfunden, weil ich etwas getan hatte, das sich nicht entschuldigen ließ.
Das zweite Mal war es im Klassenzimmer, unsere Lehrerin hatte die Türe abgeschlossen und gesagt, solange wir nicht ruhig seien, dürften wir auch nicht raus. Nicht, dass ich etwas Wichtiges zu tun hatte, aber in diesem Moment wollte ich mehr durch diese Türe gehen können als je zuvor. Meine Klassenkameradin fing an zu singen. Ich gab ihr eine Ohrfeige, eine lächerliche: blutarm, irgendwie feucht und schon aufgegeben, bevor sie ihr Gesicht erreichte. Schon als ich den Arm hob, hatte mich das Mitleid für jemanden übermannt, der nicht in der Lage ist zu erkennen, dass er sich gerade selbst einsperrt.
In meinem Traum stand ich in der kleinen Gasse unterhalb des ältesten Gasthofes in unserem Dorf. Ein Junge war dort, ein so schöner, dass es mich fast abstieß. Nichts an ihm war feindlich, er lächelte mich an, und schon da empfand ich einen Vorgeschmack dieses Gefühls, dieses bestimmten Gefühls, das ich nicht benennen kann.
Ich hob meine Hand, den ganzen Arm, zog ihn zurück und schlug ihm mit geballter Faust, der Schnelligkeit und aller Kraft, die ich hatte - mehr davon, als ich wusste - in sein Gesicht. Ich traf ihn auf dem Wangenknochen und es war, als würde der nachgeben, als würde alles an diesem Jungen nachgeben schon mit dem Auftreffen meiner Hand war er zerstört und ging zu Boden.
Um uns herum stand eine Gruppe gesichtsloser Kinder, ich weiß nicht, ob mit ihm oder mit mir oder mit sich gekommen, so etwas wie der Chor im Theater. Sie raunten sich zu, er sei tot, und in diesem Moment war das Gewissheit. Ich fühlte etwas Bedauern, aber auch dieses Unbekannte, und das wurde immer stärker. Als beides sich in Waage hielt, stand er auf. Äußerlich sah er so aus wie zuvor, aber ich wusste es, und der Chor sprach es aus: er war schwer verletzt, so schwer, dass es nie mehr zu heilen oder zu überdecken war. Er lächelte mich wieder an, von unendlich weit weg, mit einer Mischung aus all den Gefühlen, die ich hätte empfinden sollen - Bedauern, Trauer, Schmerz - und er sah nicht aus wie zuvor, sondern versehrt, aber nicht von außen, und legte mir seine Hand zärtlich auf die Wange, wie verzeihend, und in diesem Moment empfand ich nur das Gefühl.
Es war gleichzeitig, auf allen Skalen und Enden dieser Skalen, von der Schönheit und Süße des ersten Moments dieser Begegnung bis zu dem tiefsten, schweren und nicht zu fassenden Gefühl dessen, was ich getan hatte, und es füllte mich ganz aus. Niemand anderer konnte dasselbe empfinden, denn niemand außer mir hatte das getan.
Dieses Gefühl habe ich nie wieder erlebt, weder tags noch nachts, weder wachend noch schlafend, und in keinem Zustand dazwischen.
Ein einziges Mal, in der Straßenbahn, konnte ich mich auf einmal daran erinnern, wie ich es kennenlernte und nie wieder spürte, als ein junger Mann aufstand und ausstieg, und irgendwo zwischen der Biegung von Hals zu Schulter und dem Punkt zwischen Nacken und Ohrläppchen saß diese Empfindung und ich wunderte mich, dass jeder mit so etwas Fragilem wie dem Ohrläppchen einfach herumläuft und dass das nicht gefährlicher ist. Alles, was ich im Traum traf, habe ich erkannt und wieder erlebt, aber das nicht und ich kann sagen, dass ich, auch wenn dies das Gefühl der Gewalt, des Grausamen und Verletzenden ist, denjenigen, der ihm nachgibt, nicht nur verstehe, sondern sogar darum beneide.
aus:
KINNE
a slap in the face
a slap at the back
a silent scream
a confession made to a friend
a mental affair
a physical affair
waiting
a longing for value
a longing for rest
a need to be seen
a wish to stay alone
a hundred unacknowledged calls
a hundred calls
sleeping
a never-ending search for a lost keepsake
a never-ending search for a lost photograph
an antipathy against people who are needy
an insight about oneself‘s neediness
a hundred disunions
at least one reunion
having sex
an uncountable number of afternoons getting over lost friends
an uncountable number of afternoons only masturbating
an uncountable number of afternoons imagining to be someone else
an uncountable number of afternoons ordering someone else‘s clothes
an uncountable number of afternoons reserving these orders done drunken
an uncountable number of afternoons starting to drink in lack of actions of priority
eating
a hidden schwarmerei
a thing thrown away because it felt like ballast
a failed try to get this thing back from the dustbin
a failed try to find exactly the same in the internet
an afternoon spent with finding options to recreate this object
an afternoon spent to remember all the objects thrown away that weren‘t missing
reading
some days spent drinking
some days spent thinking about now to stop drinking
some days spent thinking about how to stop drinking
some days spent trying to stop drinking
some days spent sober
crying
beginning to write a diary
reading the diary after two days
maybe a fault
stop writing a diary
texting friends senseless messages and memes of wisdom
smiling
in German there is a word which is the moment between smiling and laughing
it is SCHMUNZELN
a great word
my fave word
it is something that is happening to you
suddenly you find yourself doing that
and it‘s something you can do alone or with very good friends
like SCHWEIGEN
- holding one‘s peace
aus: centre of moon, exhibition, Berlin 2020
◉ of moon
Seltsamerweise musste ich nie an Venedig denken, wenn ich in Venedig war, aber dafür in Palermo:
schmale hallways im Dunkeln, schmutziges gelbes Licht von den Straßenlaternen, die zufällig nicht
kaputt sind, das auf abbröckelnde, beschmierte, verschmutzte und bezeichnete Wände fällt. Irgendwie
Dreck, aber poetischer Dreck. Farne. So ist der Innenhof, den man durchquert, ein Venedig, an
das ich in Palermo denke, und das Treppenhaus dann DDR. An der Wohnungstür zu klingeln hab ich
nicht versucht - die Klingel unten geht jedenfalls. Procedere, wenns klingelt: Alle Lampen aus, still
sein, wenn Licht von außen einfällt, auf den Boden legen. Warten. Das Außen glotzt aus schlierigen,
fast blinden Fenstern in die leeren Räume, das macht aber nichts, weil das Außen abgewrackt schön ist
und in seiner Rötlichkeit ein seltsam weiches Licht in den Innenhof und die Wohnung wirft. Man weiß
nicht, wer geklingelt hat, und auch nicht, wer durchs Treppenhaus läuft, laut atmend an der schwächlichen
Haustür vorbei.
Die Räume sind seltsam, so geschnitten, dass man sich permanent entschuldigen möchte, weil man
gleich wogegen läuft - höchstwahrscheinlich gegen eine der zahlreichen Ecken. Leere Wohnungen
erinnern mich immer an Körper, an Haut, und daran, wie ich mich immer wundere, dass man die Spuren
von Berührungen, von Gewalt und Zärtlichkeit, nicht auf ihr sehen kann wie auf einer Landkarte.
Ich bin mir sicher, dass genau das, was Haut versteckt, in leeren Zimmern in die Wände eingezogen
ist. Es gibt das Ritual, neue Räume auszuräuchern, um sie von allem, was darin in der Luft schwelt,
zu reinigen, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass das, was da schwelt, einfach verschwindet: ich
denke, es geht in die Wände.
Das Einzige, was ganz selbstbewusst hier noch steht, als hätt es alles aufgekauft, ist diese Seife. Eine
glänzend apricotfarbene Flüssigseife in altertümlichem, gläsernen Seifenspender mit goldenem Druckkopf.
Die Seife sagt mir, so wie sie riecht (gut, aber vor-drei-Jahrzehnten-gut), dass hier zuletzt eine
Person lebte, die Wert auf eine umfassende Ästhetik und Eleganz unter Leugnung jeglicher Idiosynkrasien
oder Ekelgefühle legte - obwohl Abstoßendes auch Anziehung hervorrufen kann und obwohl
ich mir sicher war, dass ein so kantiger, spröder Ort nur für eine misanthropische Person gebaut werden
konnte, die nicht nur das Menschliche, sondern auch alles Menschengemachte ablehnen musste.
Als meine Oma gestorben war, haben wir drei Schwestern je einen Gegenstand von ihr geerbt: ich ein
goldenes Armband, meine ältere Schwester einen Spiegel mit goldenem Rahmen, der eine Figur unter
einem Baum darstellte, die jüngere ein feines Brillenetui mit goldener Stickerei. Natürlich verschwand
der Spiegel innerhalb kürzester Zeit, wie alles, und natürlich suchten wir es bei der kleptomanischen
Jüngsten, die mit der Miene und den Tränen einer Unschuldigen leugnete, bis man ihr den vermissten
Gegenstand aus der Tasche zog. Den Spiegel nicht, der blieb verschwunden, bis heute. Vielleicht hat er
sich heimlich in diese Seife verwandelt.
Und außerdem hat die Toilette einen billig blauen Deckel. Das ist wichtig: Einmal stand an der Bahnhaltestelle
eine Frau, um die ihre Neurosen förmlich herumwaberten wie eine aufdringliche Parfümwolke.
Ich dachte mir noch, so würd ich aber nicht rausgehen, auch nicht um halb neun morgens, als
ich ihre Socken sah: albern blau, ungemustert. Sie hat sich einen Scherz erlaubt, wahrscheinlich, um
sich Mut zu machen.
Im letzten Raum ein großer Ofen, der den Herd/Ofen in der aus-Versehen-eine-Küche-gewordenen
Küche im Grundriss vielleicht sogar spiegelt. Der gekachelte Ofen ist das einzig Majestätische und
das einzige Versprechen auf Wärme in der ganzen Wohnung. Der Ofen in der Küche ein Sylvia-Plath-
Ofen. Die Spiegelung wiederholt sich in dem nutzlos doppelten Waschbecken der Küche, und ich
wüsste gerne, wenn ich Ostberlin an der Grenze spiegele, welchen Ort ich auf der gegenüberliegenden
Seite an dieser Stelle finde.
Wer die Wohnung einmal durchquert, läuft von dunkel nach hell, von unbeleuchtet bis ins sakrale
letzte Zimmer mit dem stillen Ofen, der einzige Raum, der die Bezeichnung Zimmer verdient hat. Die
ganze Wohnung ist ein Flur, der vergessen hat, dass es keinen Grund gibt, sich in ihm aufzuhalten.
Als wir Kinder waren, haben wir draußen immer Zeichen gesucht (und gefunden): ein Schwarm
Vögel in V-Form, ein besonderer Stein, ein unerklärliches Licht im Himmel. Diese Zeichen waren ein
Versprechen, oder sogar eine Bestätigung unserer Wissens von einer nahenden, anderen, neuen Zeit.
Keine Utopie - die hatten wir in den Wiesen und Seen und ausgetrockneten, von grünen Algen überwachsenen
Flussbetten unserer 90er-Jahre-Kindheit ja schon - sondern eine Dystopie. Der Moment,
in dem die Flut in die Häuser bricht und man den höchsten Punkt erreicht, der Moment, in dem der
Albtraum Spaß macht (oder Lust). Es gab eine bestimmte Anzahl an Zeichen, die es zu finden galt,
aber das letzte haben wir nie entdeckt.
Ich weiß, dass es hier an diesem Ort ist, ich hab es nur noch nicht gesehen.
aus: centre of moon, exhibition, Berlin 2020
Römische Bäder
Vor Corona war ich regelmäßig, manchmal sogar zweimal am Tag, im Pool eines Health Clubs
schwimmen. Das Gebäude war im Grunde ein Keller, der schlauchartig nach unten verlief, und in einer
Art Zwischenetage lagen das Sport- und das Warmwasserbecken, von wo aus man über eine kleine Treppe
in die Saunalandschaft gehen konnte. Ich habe „Schwimmsucht“ gegoogelt, bis jetzt gibt es sie nicht.
Nachts träumte ich häufig die Bäder und Becken weiter, es gab im Wesentlichen zwei unterschiedliche
Träume, die mich immer wieder an dieselben Orte führten: einmal träumte ich eine bestimmte
Haltestelle, einen spezifischen Ort in der Stadt, den es eigentlich nicht gibt, an dem ein weiteres Bad lag.
Es war riesig, schon beim Betreten stand man förmlich in einem ausladenden, sich in Kurven um Säulen
und Glaswände schlängelnden Wasserbassin, über dem sich rote Rutschen kreuzten. Die Pools
überlagerten sich auf verschiedenen Ebenen und Etagen, wobei dieses Haus in die Höhe wuchs und
gläserne Wände hatte. Jedes Mal, wenn ich dort ankam – den Hinweg träumte ich immer mit – erfasste
mich eine Abenteuerlust und ich musste an einen Satz der Großmutter in einem Roman Orhan Pamuks
denken, in dem sie die Hängenden Gärten von Babylon beschreibt: „Wir waren in Gärten, die in Gärten
waren“. Dort waren Wasser, die in Wassern waren, in verschachtelten Becken und blau leuchtenden
Pools, und ich verschwand neugierig in einem davon. Nie träumte ich, das Bad wieder zu verlassen, es
hatte nur einen Eingang.
Der zweite Ort führte mich wieder in einen Keller, höhlenartig, mit bräunlich-felsigen Wänden und
gelbem, warmem Licht. Die Stufen der Treppen, die verschlungen immer nur weiter nach unten führten,
waren in den Stein gehauen, alles war rund: die Gänge, die Becken. Man trug ein Handtuch umschlungen
und ging von Wasser zu Wasser, sie waren alle unterschiedlich: verschiedene Farben – sandig helle Töne,
undurchsichtig, wie die Felswände – und fremde Düfte und Dämpfe trieben mich weiter hinein und
weiter hinunter.
Im Aufwachen begriffen hatte ich den festen Plan, noch im Laufe des Tages die Bäder zu besuchen und
dort alles herauszufinden, was ich noch nicht kenne. Einmal recherchierte ich tatsächlich, ob es nicht noch
eine Dependance des Clubs gab, die ich übersehen hatte und die der ersten, Hängende-Gärten-
Schwimmhalle entsprach – ich kannte ja sogar die Haltestelle. Ich fand beides so wenig wie die Schwimmsucht.
Dann schlossen die Bäder und die Träume verschwanden. Ich versuche, so viel und so lang wie möglich
zu baden (ich frage mich wirklich, wie 10 bis 20 Minuten als optimale Badezeit deklariert werden können,
nach so kurzer Zeit ist das Wasser doch nicht einmal ansatzweise kalt).
Neulich träumte ich wieder, nach Wochen, zu schwimmen: Es war ein neues Becken, das ich nicht kannte.
Eine Art römisches Bad, das Becken blau gefliest und an dessen Rändern standen leicht verzierte
Torbögen, durch die man in den Himmel sah. Blickte ich nach oben, war dort manchmal ein Dach.
Meistens aber nicht. Ich schwamm und schwamm, irgendwann sagte eine Männerstimme mitleidslos,
man solle das Wasser verlassen, da das Bad nun schließe und meine Freundin M verließ es auch schon,
aber ich konnte noch nicht, es war zu kurz und vielleicht hatte ich noch etwas Zeit. Ich drehte eine weitere
Runde, als das Wasser sich plötzlich zurückzog: Leise verschwand es in den Wänden des Beckens, es zog
sich in dessen Fugen zurück, bis ich allein unter dem im Dämmern begriffenen Himmel auf den Fliesen
stand, barfuß. Mein Blick fiel auf meine Schuhe, die ich beim Schwimmen vergessen und verloren haben
musste: sie hatten sich mit dem Wasser zurückgezogen, waren nur noch zwei Schatten meiner Fußsohlen,
wie Feuermale auf dem nun staubtrockenen Boden des Bassins.
aus: Roman baths, artist publication, Düsseldorf 2020